José A. Zamora |
«Zeit - Katastrophe - Erkenntnis. Reflexionen über Adorno und Benjamin» en: J. Manemann (ed.): Jahrbuch Politische Theologie T. 3: Befristete Zeit. Hamburgo/Münster: LIT-Verlag 1999, 71-93. |
Apokalyptik als Zeitdiagnose und Zeitkritik
Jede Zeit legt über den Ursprung ihrer eigenen Bedingungen einen Schleier, der das verdeckt hält, was sie eigentlich im Ganzen prägt. Zeitkritik zielt auf das Zerreißen dieses Schleiers ab. Die Möglichkeit dieser Kritik hängt von der Distanz zu ihrer Zeit ab, was ohne als Negativität erfahrene Widersprüche im Kritisierten nicht zu denken ist. Sie erst stiften die notwendige Distanz zum Gegenstand der Kritik. Grenzerfahrungen von extremer Negativität eliminieren jedoch tendenziell diese Distanz, sei es durch Bedrohung der ihr unterworfenen Subjekte, sei es durch zwangshaft oder verführerisch erzwungene Identifikation mit ihr. Angesichts der vielen Formen dieser Eliminierung der Distanz, von der Identifikation mit dem Aggressor über die Ästhetisierung des Negativen, die Faszination des Grauens, die absolute Anpassung an das Bestehende, bis hin zur physischen Vernichtung der Widerstandssubjekte, stellt sich die Frage nach der Möglichkeit der Wahrnehmung extremer Negativität und der Erkenntnis ihres wahren Ausmaßes, ohne der Negativität völlig zu erliegen, ohne daß die Widerstandsquellen versiegen und die Kritik stiftende Distanz ausgelöscht wird.(1)
Die jüdisch-christliche Apokalyptik als literarische Gattung wie auch als historische Bewegung bzw. Glaubens- und Realitätserfahrung stellt in ihrer Vielfalt u.a. eine Figur radikaler Zeitkritik angesichts extremer Bedrohung dar. Sie bekommt ihren Zündstoff von der Frage nach dem Verhältnis von Heil und Geschichte im Horizont der prophetischen Geschichtsinterpretation. Israels Geschichtsdenken war durch das Ereignis des Exodus aus Ägypten gestiftet und geprägt. Es deutet also ein geschichtlich singuläres Ereignis als Eingreifen des transzendenten Gottes in die Geschichte: Gott befreit das Volk aus der Gefangenschaft und setzt seinem Leiden im fremden Land ein Ende. Das heilsgeschichtliche Denken geht vom Handeln Gottes in der Geschichte aus und versucht, sie als einen Heilsplan von aufeinander folgenden göttlichen Taten zu begreifen.(2) Dieses heilsgeschichtliche Verständnis hat für Israel jedoch nicht nur positiv verlaufende Vorgänge (Landnahme, Königtum Davids), sondern auch zunächst heilsgeschichtlich schwer zu deutende Ereignisse (Reichstrennung, Exil) zu bewältigen. Das heilsgeschichtliche Geschichtsschema ist also nicht einfach als linear zu charakterisieren, sondern durch Brüche bestimmt: Verheißung-Erfüllung-Abfall-Heilswiederherstellung.(3)
Die Botschaft der Propheten hat in erster Linie mit den dringenden Fragen zu tun, die sich aus diesen historischen Konstellationen und Vorkommnissen ergeben. Die Erfahrung des Exodus bleibt indes für die prophetische "Eschatologisierung" der Geschichte maßgebend, die ihren innerweltlichen Verlauf auf das Eingreifen Gottes hin offenhält und die Erfüllung seiner Verheißungen an die Wiederherstellung des Reiches Israel - mit Einbeziehung aller Völker (Deuterojesaja) - anknüpft.(4) Damit ist allerdings nicht die Idee eines geschichtlichen Kontinuums gemeint, das nach immanenter Dynamik zu einem glücklichen Ende führt.(5) Die Negativität der Geschichte bleibt eine offene Wunde, die die Frage nach der menschlichen Verantwortung und Verstrickung im Schuldzusammenhang wie auch die Anfrage an Gott nicht schweigen läßt, eine Anfrage, die seiner Herrschaft über die Geschichte als punktuell erfahrener, befreiender Intervention die Erwartung einer historisch irreversiblen Heilsfülle entgegenbringt. Der Konstrast zwischen kanonisierter Heilszeit und erfahrener Unheilsgeschichte verleiht dem prophetischen Geschichtsverständnis eine anamnetische Struktur: es ist ein "Gedenken", das die Zukunftserwartungen an die vergangenen Heilsereignisse anknüpft, die von der neuen Heilszeit wiederholt und zugleich übertroffen werden.
Auch wenn das apokalyptische Geschichtsverständnis an die prophetische Eschatologie anknüpft und als ihr Erbe zu betrachten ist - trotz unverkennbarem Einfluß auch der weisheitlichen Traditionen -, entspricht es einer Erfahrung extremer Negativität, die ein Ende des Leids nur als Ende der Zeit (des Leidens) vorzustellen erlaubt und es herbeisehnt. Apokalyptik ist in erster Linie durch die "Ubiquität des Leidens" und die Naherwartung seines Endes bestimmt. Man denkt das Ende der Geschichte von daher nicht als Erfüllung, sondern die Erfüllung als Ende der Geschichte. Die neue Realität steht nicht in Kontinuität mit der alten, sondern bedeutet ihre völlige Abschaffung: "Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde vergingen, und das Meer ist nicht mehr" (Offb 21,1). Erlösung wird in der Apokalyptik also nicht als Ergebnis eines innergeschichtlichen Progressus, sondern als Äonenwende, als radikaler Bruch gedacht, der im Grunde eine in gleichen Maßen radikale Kritik des Bestehenden meint. An der negativen Erfahrung des Bestehenden offenbart sich die Geschichte der Macht als Katastrophenzusammenhang und nicht als Fortschreiten zu einer definitiven Erfüllung der Freiheit: Man betrachtet die Universalgeschichte als Unheilsgeschichte und nicht als Gottes Heilsplan.(6)
Das Ausmaß des Leids ist nicht mehr nur unter einem moralisch-religiösen Schuld/Strafe-Schema subsumierbar. Der Bruch mit dem Heilszustand ist nicht mehr allein auf die Untreue des Volkes Gottes rückführbar, wie es in der prophetischen Eschatologie noch der Fall war, selbst wenn diese Untreue auch mitbedacht ist. Unübersehbar ist aber das Problem des Leids der Unschuldigen und die Erfahrung der Gottesferne unter den gegenwärtigen Umständen geworden. Endzeiterwartung richtet sich von daher auf die Offenbarung der schmerzhaft vermißten Gerechtigkeit Gottes. Nicht darin, daß Erlösung als Eingreifen der Transzendenz in die Geschichte gedacht wird, unterscheidet sich das "apokalyptische" von dem "heilsgeschichtlichen" Geschichtsverständnis, sondern in der Radikalität der Kritik am Bestehenden und im umstürzlerischen Charakter des neuen Anfangs: massive Negativität läßt nur Diskontinuität, Unterbrechung zu. Keine geschichtliche Teleologie kann die Kluft der erfahrenen Unterdrückung und der Aufrichtung der Gottesherrschaft überbrücken.
Die apokalyptische Sicht über das Bestehende darf man jedoch nicht mit Dekadenz- oder Untergangsvisionen einfach gleichsetzen. Die Weltmächte sind in den Augen des apokalyptischen Sehers nicht schwächer geworden: ihre Geschichte erreicht vielmehr ihren Höhepunkt. So ist bspw. das vierte Tier in der Vision Daniels "furchtbar und schrecklich und überaus stark" (Dan 7,7). Machtfülle und Zerfall denkt die Apokalyptik jedoch zusammen. Darin besteht u.a. der realitätsenthüllende Charakter der Offenbarung. Mit der Ansage der Folgen gegenwärtiger Verhältnisse deckt der apokalyptische Seher sie auf in ihrer wahren Realität. "Die Apokalyptiker stellen ihre Gegenwart dar, indem sie sie von den zukünftigen Folgen her beleuchten."(7) Der Fluchtpunkt der auf sich allein gestellten Machtgeschichte ist der Tod aller. Diese Verknüpfung von Herrschaft und Zerstörung, die diese Herrschaft überaus ernst nimmt und gleichzeitig desavouiert, macht den Kernsatz der "Logik des Zerfalls" aus, der die von der Apokalyptik kritisierten Mächte "gehorchen müssen und deren Gesetzmäßigkeit sie zum Austrag bringen."(8) Es geht in der Apokalyptik also weder um die Ganzheit noch um die Einheit noch um die Teleologie der Geschichte. Der universalgeschichtliche Weltreichgedanke ist nicht, wie vielfach wiederholt wird, ihr Beitrag zum modernen Geschichtsdenken, sondern paganen Ursprungs.(9) Diesen Gedanken übernimmt und charakterisiert sie als Unheilsgeschichte. Offenbart wird, was den meisten noch verborgen bleibt: die Zerstörung der zerstörenden Macht - der neue Anfang. Daraus ergibt sich jedoch keine Ethikabstinenz. Die apokalyptische Eschatologie macht nicht die Ethik überflüssig, weil sie das Ende dieses Äons ankündigt, sondern sie erst verleiht der Ethik in einer hoffnungslosen Situation einen Sinn, indem sie diese Situation radikal relativiert, ohne ihren Ernst und von daher auch den Ernst des Kampfes zu verschleiern.(10)
Dieser apokalyptische Horizont, in dem
die Wahrheitsfrage mit der Frage nach der Gerechtigkeit verknüpft ist; in dem die
Theodizeefrage für die Geschichtsbetrachtung bestimmend ist; in dem die Sicht für die
katastrophale Struktur der Geschichte frei wird, ohne sie zu verabsolutieren; in dem
Negativität nicht verharmlost oder beschönigt, aber auch nicht zum anziehenden
Faszinosum verklärt wird; in dem letztlich die Zeit und ihr Ende sich zum Schlüssel der
Realitätswahrnehmung konstituieren; dieser Horizont soll gegen alle Versuche einer
Gnostisierung der kritischen Theorie den Hintergrund der folgenden Reflexionen über Zeit,
Katastrophe und Erkenntnis bei Adorno und Benjamin bilden.
Vom "Zeitkern der Wahrheit"
Die Forderung, die Hegel an jegliche Philosophie, allen voran die eigene, stellte, sie solle ihre Zeit in Gedanken erfassen, die Forderung, die er alsbald zu ihrer normativen Definition machte, verband paradoxerweise die unhintergehbare Widerlegung von der Idee der philosophia perennis mit ihrer spekulativen Erfüllung. Diese Forderung will und kann keine Philosophie heute mehr als die eigene erkennen. Das ist nicht nur ein Zeichen ihrer Schwäche gegenüber ihrer Zeit oder gar ein Zeichen ihrer Bescheidenheit, sondern vor allem Ausdruck der Unmöglichkeit, "sich selbst in einer Wirklichkeit wiederzufinden, deren Ordnung und Gestalt jeden Anspruch der Vernunft niederschlägt."(11)
Daß die Philosophie in dieser Hegelschen Forderung zugleich in den Zeitkern der Wahrheit Einsicht erreichte, wollte die Kritische Theorie jedoch gegenüber jenen Philosophien geltend machen, die den Wahrheitsanspruch des Denkens an das Niveau des realen Weltzustandes zurückschrauben möchten. Das Zusammenfallen in der Zeit von verwirklichter Vernunft und vernünftiger Wirklichkeit kann nur um den Preis eines hohen Realitäts- bzw. Vernunftverlustes, ja um den Preis einer leicht zu widerlegenden Verabsolutierung des Denkens zum absoluten Wissen bzw. einer gleichermaßen leicht zu entkräftenden Verklärung der widersprüchlichen Wirklichkeit affirmiert werden. Man wird jedoch nicht realitätsgerechter, wenn man auf jeden Vernunftanspruch an die Realität verzichtet(12), denn das würde bedeuten, das Mögliche an das Bestehende, das, was nicht ward, aber hätte sein müssen, an das, was sich durchsetzte, zu verraten.(13) Ein solcher Verrat wäre dann nur unter der Bedingung möglich, Denken könne auf moralische Anforderungen in der Erkenntnis geschichtlicher Realität verzichten. Dagegen stemmt sich das akkumilierte Leiden. Nichts anderes macht das Denken dialektisch: der Anspruch auf den Zusammenhang von Wahrheit und Gerechtigkeit, denn nur er hält es in Bewegung.(14)
"Am Ende ist Hoffnung, wie sie der Wirklichkeit sich entringt, indem sie diese negiert, die einzige Gestalt, in der Wahrheit erscheint. Ohne Hoffnung wäre die Idee der Wahrheit kaum nur zu denken, und es ist die kardinale Unwahrheit, das als schlecht erkannte Dasein für die Wahrheit auszugeben, nur weil es einmal erkannt ward."(15)
Zwischen der Szyla der Affirmation einer verwirklichten Vernunft bzw. vernünftigen Wirklichkeit und der Charybdis der nachkonstruierenden Anpassung an das Bestehende bleibt also nur die vom Stand der Realität aufgenötigte Forderung, das Denken solle sich der Hoffnung verpflichten, "Unfreiheit und Unterdrückung, das Übel, das so wenig eines philosophischen Beweises bedarf, daß es das Übel sei, wie daß es existiert, möchte doch nicht das letzte Wort behalten."(16) Das ist gerade die Pointe des Diktums vom Zeitkern der Wahrheit, nicht "wie der Relativismus es will, Wahrheit in der Geschichte, sondern Geschichte in der Wahrheit"(17). Hier wußte sich Adorno mit Benjamin einig, der sich nicht mit der Abkehr vom Begriff der "zeitlosen Wahrheit" zufrieden geben wollte und die Wahrheit an einen Zeitkern gebunden sah, "welcher im Erkannten und Erkennenden zugleich steckt."(18)
Besitzt das Denken kein Anrecht vor der Zeit, das es davor schützen kann, daß sein vermeintlicher, aber zugleich unabdingbarer Anspruch auf Ewigkeit an ihr brüchig wird, ist jede Identifikation des Denkens ein Gewaltakt, den die nichtidentische Realität stets Lügen straft, kann sich das Denken an keiner absoluten Identität mit dem geschichtlichen Sein beruhigen, so kann die Gerechtigkeit für die immer noch und immer wieder beschädigte Realität nur im Licht und in der Kraft der Wahrheit geschehen.(19) Der Ort dieser Wahrheit ist kein statisches Übereinstimmen von Subjekt und Objekt, sondern das zeitliche Sich-durcheinander-Produzieren, von dem Benjamin spricht.
Die Zeitlichkeit des Objekts, seine Konkretion, seine Singularität usw. werden nicht nur durch die Festigkeit begrifflicher Definitionen verraten und entstellt, sondern auch durch die Annahme einer Identität des Objekts mit sich selbst jenseits des Denkens. Die Entstelltheit, die Beschädigung und die Unversöhntheit des Realen, die aus seiner zeitlichen Konkretion so wenig abzustreifen sind, wie seine unverwirklichten Potentiale, seine Möglichkeiten und seine Ansprüche auf Gerechtigkeit, werden von einer emphatischen Idee der Wahrheit erst erkennbar, denn seine Entstelltheit ist eine durch das gesellschaftliche Allgemeine produzierte und daher nur durch Kritik (Selbstreflexion) am begrifflichen Allgemeinen ans Licht zu bringen. Gleichwohl ist sie aber auch nur am Anspruch des Allgemeinen auf emphatische Wahrheit wahrnehmbar und kritisierbar(20), denn erst die ihr inhärente Idee des Absoluten bietet den Überschuß, der an die Möglichkeit des Seienden denken läßt, noch anders zu sein als das, was es ist. Das Denken kann deshalb die Idee der Wahrheit nicht aufkündigen, ohne sich selbst aufzulösen, ohne sich der bestehenden Realität gleichzumachen, sich ihr zu unterwerfen, zu ihrer bloßen Nachkonstruktion zu werden.(21) Jene Möglichkeit des Seienden spricht jedoch ihrerseits gegen jede Identifikation des Absoluten mit dem Sein, ja zwingt die Philosophie dazu, sich diesen Gedanken zu verbieten, um ihn nicht zu verraten. Der Widerspruch zwischen diesem Verbot und dem Bestehen auf einen emphatischen Begriff der Wahrheit macht nach Adorno das Element der Philosophie aus und bestimmt sie als negative.(22) Der Zeitkern der Wahrheit zwingt sie also zu einer neuen Figur der Rettung des Besonderen im Allgemeinen.
Hier sind auch Bejamins intellektuelle Bemühungen anzusiedeln, das schwierige Verhältnis zwischen Geschichte und Wahrheit zum Hauptproblem philosophischer Reflexion zu machen. In diesem Zusammenhang bezieht er sich in der erkenntniskritischen Vorrede zu Trauerspiel-Arbeit auf die Ideenlehre Platons, was den materialistisch geprägten Interpretationsversuchen nicht geringe Schwierigkeiten bereitet hat. Gegen den Anschein, daß es sich um ein abstraktes Klassifikationsverhältnis handelt, bei dem die Phänomene unter die Ideen klassifizierend eingeordnet werden, spricht Benjamin von der "Bergung der Phänomene in den Ideen" und fügt hinzu:
"Indem die Rettung der Phänomene vermittels der Ideen sich vollzieht, vollzieht sich die Darstellung der Ideen im Mittel der Empirie. Denn nicht an sich selbst, sondern einzig und allein in eine Zuordnung dinglicher Elemente im Begriff stellen die Ideen sich dar. Und zwar tun sie es als deren Konfiguration."(23)
Benjamin distanziert sich hier von der Vorstellung eines induktiven Verfahrens von Erkenntnis, das auf Epochen- und Gattungsbezeichnungen als Allgemeinbegriffe abzielt, unter denen dann die Werke und Autoren - man könnte in unserem Kontext auch von geschichtlichen Phänomenen überhaupt sprechen - subsumiert werden. Die empirische Lückenlosigkeit, die erst dieser Methode Geltung verschaffen würde, ist in der Tat unerreichbar. Nicht minder aber wendet er sich auch gegen das deduktive Verfahren, das als "Projezierung in ein pseudo-logisches Kontinuum" auf das Gleiche hinausläuft.(24) Die Gegenstände werden in der Historie als gegebene Größen angesehen, mit denen man zu arbeiten hat, um in einem diskursiven Verfahren zum Resultat einer "Anschauung" zu gelangen, die eine approximative Antwort auf die Frage "Wie es denn eigentlich gewesen ist?" darstellen soll. Eine solche, der Deutung immer noch bedürfende Anschauung ist nichts anderes als die Anschauung "subjektiver, in das Werk hineinprojizierter Zustände des Aufnehmenden"(25).
Benjamin schlägt einen anderen Weg ein: "Nur dort, wo das System in seinem Grundriß von der Verfassung der Ideenwelt selbst inspiriert ist, hat es Geltung."(26) Die Ideen haben indessen keine klassifizierende Funktion, sondern eine rettende: sie sind keine Darstellung der allen Phänomenen gemeinsamen, als Durchschnitt verstandenen Allgemeinheit, die das Heterogene in die Uniformität des Gleichen - der Intention des Erkennenden folgend - unterbringt, sondern suchen das Singuläre zu "retten". Begriffe müssen vom Einzelnen abstrahieren. Als Allgemeines im Besonderen besitzen sie Vorrang vorm kontingenten Einzelnen, das bloß unter sie fällt. Universalität heißt dann Überschreiten, über das Konkrete hinweggehen. Die Idee verhält sich zum Einzelnen aber ganz anders. Es fällt nicht unter, sonder in sie. Dadurch wird es "was es nicht war: Totalität" und so gerettet. "Die Form in welcher das Einzelne dergestalt zur Totalität kristallisiert und festgestellt wird, ist Geschichte".(27)
Das bedeutet aber nicht, daß Geschichte als eine Totalität zu verstehen wäre, die die Vielheit der Ideen als deren Momente umfaßt. Vielmehr muß man Totalität in jeder Idee denken, d.h., sie als Monade denken. "Die Vertiefung der historischen Perspektive (...) kennt, sei es ins Vergangene oder ins Zukünftige, prinzipiell keine Grenzen. Sie gibt der Idee das Totale. Deren Bau, wie die Totalität sie im Kontrast zu der ihr unveräußerlichen Isolierung prägt, ist monadologisch."(28) Die Idee als Monade, d.h. als Inbegriff des individuellen Besonderen und zugleich als eine Totalität gedacht, scheint ein Paradoxon zu sein. Es ist aber ein gewolltes: der Versuch einer nicht gattungsbegrifflichen Vermittlung von Allgemeinem und Besonderem. Hinzu kommt, daß die Idee als "verkürzte" Darstellung die Diskontinuität mit der realen Welt nicht leugnet: "Die Ideen verhalten sich zu den Dingen wie die Sternenbilder zu den Sternen."(29) Sie zielen nicht auf Identität ab, sondern auf Rettung des Singulären.
Der Wahrheitsbegriff, den Benjamin hier vertritt, setzt sich vom adaequatio rei et intellectus-Prinzip des naiven Realismus deutlich ab: "Nicht als ein Meinen, welches durch die Empirie seine Bestimmung fände, sondern als die das Wesen dieser Empirie erst prägende Gewalt besteht die Wahrheit."(30) Diese ist also kein "Gegenstand der Erkenntnis", sondern "ein aus Ideen gebildetes intentionsloses Sein"(31). Eine "Erkenntnis" der Wahrheit in diesem Sinne ist nicht möglich. Sie würde eine Antizipation ihrer Einheit und die von Subjekt und Objekt voraussetzen, die die Existenz der Intention Lügen straft. Der intentionale Gebrauch der Worte, sei es im Dienst einer mitteilenden oder einer erkennenden Funktion, bedeutet eine Zurichtung der Dinge, der die Wahrheit sich nicht erschließen kann: "Erkenntnis ist ein Haben. Ihr Gegenstand selbst bestimmt sich dadurch, daß er im Bewußtsein - (...) - innegehabt werden muß. Ihm bleibt der Besitzcharakter"(32). Die Darstellungsmethode, die Benjamin sucht, setzt den Bruch der Intention voraus, verlangt jedoch einen "Verzicht auf den unabgesetzten Lauf der Intention", denn der Wahrheitsgehalt läßt sich "nur bei genauester Versenkung in die Einzelheiten eines Sachgehalts"(33) fassen. Die Idee darf deshalb nicht als Instrument zur "Erkenntnis" der Wahrheit - etwa durch ihre Anschauung - verstanden werden, sondern als "objektive Interpretation der Phänomene"(34), die nur durch die Konfiguration ihrer extremen Elemente jener Wahrheit zur Selbstdarstellung verhelfen kann. In den Ideen treten die Elemente der Phänomene in konstellative Beziehung zueinander: das Einmalig-Extreme bildet in ihnen einen sprachlichen Zusammenhang. Dieser stellt aber keinen gemeinsamen Nenner, keinen Durchschnitt, keine Allgemeinheit oberhalb oder unterhalb seiner Momente dar, sondern durchschreitet alle Extreme der Konkretheit. So nur kann das Empirische - in seinen extremen Elementen und d.h. in seiner Einzigartigkeit - erkannt werden.(35) Die Ideen selber sind nicht interpretierbar. Vielmehr sind sie als konfigurativer Zusammenhang der Phänomene deren objektive Interpretation.(36)
Die Elemente dieser Konstellationen sind geschichtlicher Art: einzig die philosophische Geschichte als "die Wissenschaft vom Ursprung" kann sie in ihren Gegensätzen und Exzessen heraustreten lassen.(37) Nicht daß das Ursprüngliche im nackten Bestand des Faktischen sich zu erkennen gibt; aber in jedem "Ursprungsphänomen bestimmt sich die Gestalt, unter welcher immer wieder eine Idee mit der geschichtlichen Welt sich auseinandersetzt, bis sie in der Totalität ihrer Geschichte vollendet daliegt"(38).
Benjamins "Wissenschaft vom Ursprung" als "Rettungsprogramm" der Phänomene versucht, dem inne zu werden, was dem geschichtlichen Vergessen anheimfiel, und zugleich es zu konstruieren. Wahrheit - und hier gewinnt der Begriff des Zeitkerns seine volle Bedeutung - ist nicht nur von dem zeitbedingten Erkennen eines historisch situierten Subjekts abhängig, wie man es von der Metaphysikkritik der Moderne kennt, sondern von der Repräsentation eines Vergangenen in seiner Aktualität. Benjamin sieht auch die Notwendigkeit ein, die "'Zeitlosigkeit' als Exponent des bürgerlichen Wahrheitsbegriffs zu entlarven". In der Autorität, die der Sprache intentionsloser Wahrheit, d.h. der Sache selbst, eigen ist, ist jedoch
"Zeit genau mitgedacht, indem die Autorität da ist und verschwunden ist, je nach zeitlichen Konstellationen. Indessen entsteht sie nicht, indem eine Meinung allmählich 'Recht' bekommt und es dann hat. Vielmehr wird sie sprunghaft geboren aus einem bestimmten durch den Blick erweckten Insichgehen der Sache selbst."(39)
Idee ist Ursprung nicht im Sinne einer Quelle, der das Gewordene entsprungen ist, sondern eines dem "Werden und Vergehen Entspringenden", das im "Jetzt der Erkennbarkeit" in simultaner Vergegenwärtigung bestimmter Momente, in der Konfiguration extremer Elemente, ihre Wahrheit zur Selbstdarstellung bringt. "Ursprung ist nicht Anfang, 'hat mit Entstehung (...) nichts gemein', sondern geht aufs Neue, auf die Rettung des Besonderen im Allgemeinen."(40) Bei der die Idee bestimmenden Kategorie des Ursprungs geht es also nicht um eine genetische "Erklärung" des Phänomens - Entstehung und Werden. Der Ursprung als das Unvollendete und Unabgeschlossene steht im Faktischen, im Fluß des Werdens selber mitten darin. Das ist, was Benjamin unter Konstitution der Dinge im Jetzt der Erkennbarkeit versteht. "Der Satz: Die Wahrheit gehört in irgendeinem Sinne zum vollendeten Weltzustand wächst katastrophal zu jenem andern, wächst um die Dimension des 'jetzt': Die Welt ist jetzt erkennbar. Die Wahrheit besteht im 'Jetzt der Erkennbarkeit'." (41)
Einer Geschichtsbetrachtung, die in Kausalketten denkt und Epochen als Gebilde subjektiver Anschauungsweise zu erfassen versucht, ist die Einsicht in das Phänomen des Ursprungs versperrt, die der Betrachtung vorbehalten bleibt, die "die Grenzen zwischen Natur- und Weltgeschichte ernsthaft" problematisiert und dadurch "Wiederholung als wesentlichstes Motiv jeder Periodisierung in beiden" (42) wahrnimmt. Auch für Adorno ist Natur-Geschichte der "Kanon geschichtsphilosophischer Interpretation":
"Am Gedanken wäre es (...), alle Natur, und was immer als solche sich installiert, als Geschichte zu sehen und alle Geschichte als Natur (...). Das Moment jedoch, in dem Natur und Geschichte einander kommensurabel werden, ist das von Vergängnis; Benjamin hat das im 'Ursprung des deutschen Trauerspiels' zentral erkannt."(43)
Der Geschichtsphilosophie kommt nach Adorno die Aufgabe zu, die dialektische Verschränkung von Natur und Geschichte in den Trümmern und Bruchstücken, zu denen die Realität geworden ist, freizulegen, um so zu ihrer Auslegung zu gelangen:
"Unter dem radikalen naturgeschichtlichen Denken (...) verwandelt sich alles Seiende in Trümmer und Bruchstücke, in eine solche Schädelstätte, in der die Bedeutung aufgefunden wird, in der sich Natur und Geschichte verschränken, und Geschichtsphilosophie gewinnt die Aufgabe ihrer intentionalen Auslegung."(44)
Damit wird die traditionelle Auffassung von Geschichtsphilosophie auf den Kopf gestellt.
Sie hat nicht das Diskontinuierliche und Disparate mit Hilfe einer universalen
Konstruktion zur totalisierenden Einheit zu bringen, die Brüche und Risse in einer wie
auch immer gearteten Ganzheitsstruktur sozusagen verschwinden zu lassen, sondern an den
Fragmenten und Ruinen der wirklichen Welt anzusetzen und sie nach der Dialektik von
Geschichte und Natur zu befragen. Beide, Natur und Geschichte, sind Begriffe, die um
"die konkrete historische Faktizität" versammelt werden, um sie "im
Zusammenhang jener Momente in ihrer Einmaligkeit" zu erschließen.(45)
Die Gegensätzlichkeit und scheinbare Widersprüchlichkeit dieser Begriffe darf - Adorno zufolge - nicht idealistisch aufgehoben werden. Vielmehr hat die Idee der Naturgeschichte von der überkommenen Begrifflichkeit auszugehen und zu versuchen, die Begriffe zum Tanzen zu bringen, bis sie im Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Faktizität freigeben, was sie in ihrer bloßen Gegensätzlichkeit zu verhüllen versuchen.
"Nun ist zunächst die Aufgabe der Geschichtsphilosophie, diese beiden Momente herauszuarbeiten, zu sondern und einander gegenüberzustellen, und erst wo diese Antithesis expliziert ist, ist eine Chance, daß man zu der Auskonstruktion der Naturgeschichte gelangen kann."(46)
Die Sphäre der Kultur, das, was durch den Geist geschaffen ist, die Institutionen und Vergesellschaftungsformen sowie die ökonomischen Strukturen, also alles geschichtlich Produzierte, wird einerseits als Inbegriff des Neuen gehandhabt, also dessen, was im Gegensatz zur Natur, zu dem, was immer sich gleich bleibt, Niedagewesenes, Neugeschaffenes darstellt. Alles Bestehende, auch Gesellschaft und Kultur, besitzt jedoch in seinem Da- und Sosein die inhärente Tendenz, den Prozeß seines Werdens zu kaschieren, als Letztes, End-gültiges seine Gültigkeit als immer Dagewesenes gelten lassen zu wollen, so daß "die Welt der Konventionen" (Lukács), obwohl geworden, doch naturhaft, statisch erscheint.
Wenn man das Neue in der Geschichte betrachtet, stellt man paradoxerweise fest, daß es den Schein der Naturhaftigkeit besitzt. Mit dieser Scheinhaftigkeit ist die geschichtliche Realität behaftet, weil sie uns verloren ist, ja uns als schicksalshaft und unserer Bestimmungsmacht entzogen widerfährt, so daß die geschichtlichen Phänomene mythischen Charakter aufweisen. Gerade die Moderne, die sich als das "das Neue" im emphatischen Sinn im Gegensatz zum Altmodischen, als das Fortschrittliche gegenüber dem Rückständigen präsentiert, weist unverkennbare Züge des Immer-Wiederkehrens, des Seriellen und Repetierenden wie keine andere Epoche auf. Dies erweist sich am Gesetz, "das eines des Marktes so gut ist wie eines der Mythen: er muß gleichzeitig stets dasselbe sein und stets das Neue vortäuschen."(47)
Die kapitalistische Produktionsform bestätigt und vertieft in der Lohnarbeit ihren mythischen Sisyphus-Charakter, wie Benjamin bemerkt: "Das Immer-wieder-von-vorn-anfangen ist die regulative Idee des Spiels (wie der Lohnarbeit)."(48) Aus dem Nicht-Aufhören-Wollen, dem Immer-weiter-Gehen, der Beschleunigung der Aktivität ergibt sich eine Entqualifizierung der Zeit, eine geschichtsauflösende Verräumlichung der Zeit. Mit dieser Beschleunigung der Verkehrszeit des Umsatzes und des Stoffwechsels im Industriekapitalismus geht eine veränderungshindernde Verlangsamung der Geschichtszeit einher bis zur Stagnation unter ungeheurer Erhöhung der Geschwindigkeit: wie ein Wirbel, der an der Stelle bleibend, alles verschluckt. Wiederholungszwang, Übermächtigkeit, Undurchschaubarkeit und Schicksalhaftigkeit verleihen dem Bestehenden die Gewalt, die einst dem Mythos eigen war. Phänomene wie das déjà-vu, das Wiedererkennen, die Angst und die Bedrohlichkeit, die unsere Erfahrung des Gegebenen bestimmen, sind Indizien dafür, daß das mythische Moment des Scheins auch im Neuen, in Geschichte gegenwärtig ist.
In diesen Gedanken drückt sich nicht bloß der kulturkritische Protest gegen die Naturverfallenheit des Geistes aus. Benjamins Interpretation der Allegorie geht bpw. darüber hinaus und offeriert neue Kategorien, mit denen die Naturgeschichte, die Dialektik von Geschichte und Natur an den konkreten Phänomenen erschlossen werden kann. Was in der Allegorie sich ausdrückt, ist das Antlitz der Geschichte als Rätselfrage. Geschichte gewinnt diesen Rätselcharakter erst durch ihre Naturverfallenheit: Geschichte und Natur konvergieren im Moment der Vergänglichkeit, die sich im Trauerspiel auf dem Schauplatz in den Ruinen darstellt.
Dem Allegoriker sind diese Ruinen eine Schrift, die es zu entziffern gilt, eine Schrift, die von allem spricht, was die Geschichte "Unzeitiges, Leidvolles, Verfehltes von Beginn an hat"(49). An den Trümmern erkennt man, was zerfallen ist, was nicht mithalten konnte, was dem Prozeß der "fortschreitenden" Geschichte zum Opfer gefallen ist. Dieser Aspekt scheint Adorno von entscheidender Bedeutung zu sein. Aus der allegorischen Deutung der zu Trümmern verfallenen Welt geht etwas deutlich hervor, das als komplementäres Element zum Begriff der zweiten Natur mitbedacht werden muß: "Wann immer Geschichtliches auftritt, weist das Geschichtliche zurück auf das Natürliche, das in ihm vergeht."(50) Geschichte ist nicht als ein triumphaler Marsch des die Natur sich unterwerfenden Geistes zu verstehen. Geschichte ist durch diese Unterwerfung vor allem Leidensgeschichte, Verfallsgeschichte. Die Allegorie öffnet die Augen für das Katastrophale der Geschichte und des Lebens.
Katastrophe
Das Bestehende, als zweite Natur etabliert, kaschiert also nicht nur den Prozeß seiner Konstitution, um sich zu perpetuieren, sondern verhüllt durch den blendenden Glanz des angeblich Neuen die Leiden und Katastrophen, die in diesem Prozeß Natur wie Menschen widerfahren. Zum Unrecht, das den Unterdrückten und Erschlagenen widerfuhr, fügt sich die Tilgung der Spuren, die an sie erinnern könnten, hinzu. Das Bestehende besitzt die Macht, den Blick für das, was zerschlagen wurde und unterging, zu versperren und so durch die Augenfälligkeit des Siegesmarsches dessen, was sich durchsetzte, die Wahrnehmungsart zu prägen, mit der Geschichte apperzipiert wird. Die allegorische Sicht erliegt dieser Verblendung nicht: bedeutend sind ihr nicht die "Siege", die die Geschichte nach der herrschenden Geschichtsschreibung als einen vorwärtsschreitenden, emporsteigenden Prozeß erscheinen läßt, sondern die "Stationen ihres Verfalls", die katastrophischen Brüche, die das von der Historie aus ihnen zusammengestückelte Kontinuum glatter Oberfläche eines Fortschritts sprengen und sich letztendlich als das untergründig Bruchlose erweisen.
Damit etwas wirklich Neues entsteht, muß man das Neueste als Gleiches erkennen.(51) Polemisch argumentiert Adorno gegen jede systematische Einheit der Geschichte, "die den individuellen Leiden Sinn geben oder erhaben zum Zufälligen es degradieren soll" und versucht diese zu entlarven, indem er die systematische Einheit der Geschichte als Inbegriff des Leidens bezeichnet: "Im Bannkreis des Systems ist das Neue, der Fortschritt, Altem gleich als immer neues Unheil."(52) Das Paradox der Dialektik zwischen Neuem und Gleichem wird in der Idee der Naturgeschichte nicht gemildert oder gar aufgelöst, sondern radikalisiert. Diese ist keine Dekadenztheorie. Fortschritt wird zugleich bestätigt und negiert. Er findet statt. Indem er aber stattfindet, bleibt er Reproduktion des Gleichen. "Der Begriff des Fortschritts ist in der Idee der Katastrophe zu fundieren. Daß es 'so weiter' geht, ist die Katastrophe. Sie ist nicht das jeweils bevorstehende, sondern das jeweils Gegebene."(53)
Die Idee des Fortschritts ist zu kritisieren, nicht weil sie einfach falsch ist, sondern weil sie die unwahre Realität widerspiegelt und als deren bloße Widerspiegelung falsch bleibt. Die Idee der Naturgeschichte sucht daher nicht einfach eine theoretische Aufhebung des Gegensatzes, noch stellt sie das Leiden als "theoretische" Grundbestimmung der Geschichte dar, sondern fordert einen Wechsel der Perspektive. Diese Perspektive ist die der Opfer der Geschichte, deren Leiden kein Fortschritt wiedergutmachen kann: vielmehr setzt er in seinem Weitergehen das Unrecht fort. Um der Erkenntnis der jüngsten Gestalt des Unrechts willen muß man die scheinhafte Fassade des Neuen durchbrechen:
"Das Neue erkennen bedeutet nicht ihm und der Bewegtheit sich einschmiegen sondern ihrer Starrheit widerstehen, den Marsch der welthistorischen Bataillone als Treten auf der Stelle erraten. Die Theorie weiß von keiner 'konstruktiven Kraft' denn der, mit dem Widerschein des jüngsten Unheils die Konturen der ausgebrannten Vorgeschichte zu erleuchten, um in ihr seiner Korrespondenz gewahr zu werden. Das Neueste gerade, und es allein stets, ist der alte Schrecken, der Mythos."(54)
Die Stationen des Verfalls, die an den Trümmern sichtbar werden, bestätigen den Triumphmarsch der Herrschaft und desavouieren ihn zugleich, indem sie die unter keine Strukturganzheit zu bringende Diskontinuität offenlegen: alles, was an Mißlingen, Regression und Barbarei dem Zivilisationsprozeß anhaftet. Geschichte ist naturhaft nicht nur durch ihren Zwangscharakter und ihre Erstarrtheit, durch ihr der Bestimmungsmacht der Menschen Entzogensein, sie ist naturhaft auch als Verfallsgeschichte, die die allegorische Interpretation an den Ruinen und Trümmern der Welt abliest. Das Immergleiche des Neuen ist nicht nur der sich perpetuierende mythisch-archaische Zwang der Herrschaft, sondern auch das Verhängnis der perennierenden Katastrophe. In den Leiden der Geschichte waltet der Bann des Mythischen, der sich fortsetzt durch die Weigerung, jene zu apperzipieren.
Die Wahrnehmung der Leiden durchbricht jedoch die feste Kruste über den Dingen, die der mythischen Immanenz des Leidens zum Fortdauern verhilft, denn "der Ausdruck des Geschichtlichen an Dingen ist nichts anderes als der vergangener Qual"(55). Deshalb ist das "Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen, (...) Bedingung aller Wahrheit"(56). Wahrgenommene Vergänglichkeit ist das beste Mittel gegen den Schein der zweiten Natur, die beste Hilfe zur Feststellung, daß das, was ist, eben nicht immer so gewesen ist, daß es anders sein kann und muß. Daß der fortdauernden Katastrophe Einhalt geboten werden kann, ist jedoch so wenig garantiert, wie diese zu einer ontologischen Struktur der Geschichte erhoben werden darf: eine Ontologisierung des katastrophalen Moments der Geschichte wird von Adorno ebenso abgelehnt wie eine List der Vernunft, die alles zum Guten wendet.
Hier wird keine Geschichtsmetaphysik formuliert, sondern ein Perspektivenwechsel in der Betrachtung der Geschichte eingefordert. Benjamin hat es unübertroffen zum Ausdruck gebracht: "Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns, daß der 'Ausnahmezustand', in dem wir leben, die Regel ist."(57) Die Möglichkeit, "Regel" und "Ausnahme" zusammenzudenken, hängt von diesem Perspektivenwechsel ab. Es geht nicht darum, Diskontinuität, Ausnahmezustand oder das Leiden zu ontologisieren, als ob es sich um eine wesentliche Bestimmung der Geschichte handeln würde, von der sie sich logischerweise nicht befreien kann, sondern hier wird gefordert, die Perspektive der Unterdrückten, der Opfer der Geschichte anzunehmen. Diese Intention nimmt man in aller Deutlichkeit wahr, wenn man auf die Sperrungen achtet, mit denen Benjamin auf den Perspektivenunterschied in seinem berühmten Aphorismus über den "Engel der Geschichte" aufmerksam macht: "Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert"(58). Der Perspektivenunterschied fordert wahrhaft eine andere Wahrnehmung des geschichtlichen Geschehens. Der Engel schaut nicht vorwärts in die Richtung, in die er von der unaufhaltsamen Zeitflut geschleudert wird, sondern versucht vergeblich mit dem Rücken zur Zukunft diese Flut aufzuhalten, um die Kette von Katastrophen, von der seine offenen Augen zeugen, ungeschehen zu machen oder mindestens zu rektifizieren.
Der Engel kann als machtloser Zeuge nicht in den Kurs der Geschehnisse eingreifen, will jedoch als rückwärts gewandter Prophet wenigstens unsere Augen öffnen, damit wir, durch die neue Perspektive angespornt, im Augenblick, in dem die Katastrophen der Vergangenheit jäh unserem Blick in Konstellation mit den Katastrophen der Gegenwart erscheinen, gegen den Kurs der Geschichte zu handeln anfangen, der das Grauen perpetuiert. Den Blick rückwärts auf die vergangenen Katastrophen, auf die vereitelten Möglichkeiten der Menschheit zu richten, ist nach Benjamin das, was paradox zu gerechten Wahrnehmung der Gegenwart befähigt und von der Blindheit befreit, die den Marsch der Geschichte jenen aufzwingt, die mit ihm Schritt halten möchten.(59)
Adorno teilt mit Benjamin die Überzeugung von der Notwendigkeit eines Perspektivenwechsels. Was Klees Angelus Novus für Benjamin aber darstellt, findet Adorno unter der Perspektive der schon geschehenen Katastrophe in Becketts Drama Endspiel, aus dem er folgende Stelle zitiert:
"HAMM: Ich habe einen Verrückten gekannt, der glaubte, das Ende der Welt wäre gekommen. Er malte Bilder. Ich hatte ihn gern. Ich besuchte ihn oft in der Anstalt. Ich nahm ihn an der Hand und zog ihn ans Fenster. Sieh doch mal! Da! Die aufgehende Saat! Und da! Sieh! Die Segel der Sardinenboote. Wie schön das alles ist! (Pause) Er riß seine Hand los und kehrte wieder in seine Ecke zurück. Erschüttert. Er hatte nur Asche gesehen."(60)
Auch Kafka stellt für Adorno diesen Perspektivenwechsel dar:
"Im Mittelalter hat man Folter und Todesstrafe an den Juden 'verkehrt' vollzogen; schon an der berühmten Stelle des Tacitus wird ihre Religion als verkehrt angeprangert. Delinquenten wurden mit dem Kopf nach unten aufgehängt. So wie diesen Opfern in den endlosen Stunden ihres Sterbens die Erdoberfläche muß ausgesehen haben, wird sie vom Landvermesser Kafka photographiert."(61)
Für die Opfer der Geschichte - mit ihren individuellen und unverwechselbaren Leiden - ist
aller Fortschritt nichtig: "Das jüngste Opfer ist immer das gestrige"(62). Jedes Opfer ist das Negativbild des
perennierenden Zwangs und von daher die Negation, daß Fortschritt ward. Die Opfer lassen
sich nicht in der Bewegung zum Guten "aufheben", ohne sie zur Station eines
unaufhaltsamen Aufstiegs des Geistes bzw. der Menschengattung und ihre Leiden zu einer in
Kauf zu nehmenden "quantité négligeable" zu degradieren. Dies kann zur
Rechtfertigung des (falschen) Ganzen führen, nicht jedoch den Opfern selbst gerecht
werden, denn jedes Opfer ist ein Opfer zuviel.
Während die Perspektive, die vom Ganzen ausgeht, das Leid als Ausnahme betrachtet und leicht dazu tendiert, eine mehr oder weniger spekulativ verfeinerte Plus-Minus-Rechnung aufzustellen, dementiert die Perspektive der Opfer den Ausnahmecharakter des Leidens, denn für sie ist die Ausnahme die Regel. Der, der vernichtet wird, kann die vernichtende Negativität nicht relativieren, kann sie nicht auf ein Moment, auf einen Aspekt reduzieren lassen. Für ihn ist die Negativität total, weil die Vernichtung total ist. Hinter einer expliziten Behauptung bzw. einer impliziten Annahme dieses Ausnahmecharakters verbirgt sich eine inakzeptable Relativierung und mit ihr eine Sanktionierung des Leidens selbst. Dem Ausmaß der geschichtlichen Negativität, die besonders, aber nicht ausschließlich in Auschwitz zutage tritt, kann man deshalb nur mit Übertreibung entgegentreten, denn gefährlicher als zu übertreiben wäre, es zu verharmlosen.
"Das Wesen der Vorgeschichte ist die Erscheinung des äußersten Grauens im Einzelnen. Hinter der statistischen Erfassung der im Pogrom Geschlachteten, die auch die barmherzig Erschossenen einschließt, verschwindet das Wesen, das an der genauen Darstellung der Ausnahme, der schlimmsten Folterung, allein zutagetritt."(63)
Der Denkgestus der Übertreibung setzt sich dem Realitätsprinzip entgegen, um auszudrücken, was diesem entgeht.(64) Ihre Einseitigkeit will sozusagen auf eine herrschende und von daher nicht mehr wahrgenommene Einseitigkeit aufmerksam machen, die über das Ausmaß des Negativen hinwegschaut. "Der Splitter in deinem Auge" - schreibt Adorno - "ist das beste Vergrößerungsglas."(65) Ist jede Rekonstruktion der Geschichte eine Anamnese des vorausgegangenen Prozesses, so weisen die bisherigen, dem Bann des Fortschritts verhafteten Rekonstruktionen eine merkwürdige Verschränkung mit Amnesie auf. Diese Amnesie ist jedoch von der Form, in der der Prozeß der Geschichte tatsächlich verlaufen ist, bestimmt. Man kann sich deshalb nicht von diesen Geschichtskonstruktionen, einmal durchschaut, wie von altem Eisen trennen, weil sie immer noch Auskunft darüber geben, warum die Anamnese von Anfang an entstellt war. Man muß ihnen abtrotzen, was sie nicht meinen wollen und doch implizit in sich bergen. Denn das reale Vergehen an den Opfern und die Amnesie darüber hängen aufs innigste zusammen.
Die einzige Form, das gegenwärtige, in Auschwitz ins Unermeßliche gestiegene Leiden nicht in einer universalgeschichtlichen Deutung aufzuheben, ist, von ihm aus die ganze Geschichte zu betrachten. Das Singulärste - Auschwitz - zwingt zu einem Perspektivenwechsel über das Ganze, der die Einsicht in die Nachtseite der Geschichte erschließt: "von der nie zuvor erfahrenen Marter und Erniedrigung der in Viehwagen Verschleppten (fällt) das tödlich-grelle Licht noch auf die fernste Vergangenheit"(66). So "erscheint die manifeste Geschichte in ihrem Zusammenhang mit jener Nachtseite, die in der offiziellen Legende der Nationalstaaten und nicht weniger in ihrer progressiven Kritik übergangen wird"(67). Eine kritische Konstruktion der Geschichte hat sich nicht nur der herrschenden Dynamik zuzuwenden, sondern auch dem,
"was in solche Dynamik nicht einging, am Wege liegen blieb - gewissermaßen den Abfallstoffen und blinden Stellen, die der Dialektik entronnen sind. Es ist das Wesen des Besiegten, in seiner Ohnmacht unwesentlich, abseitig, skurril zu scheinen. Was die herrschende Gesellschaft transzendiert, ist nicht nur die von dieser entwickelte Potentialität, sondern ebensowohl das, was nicht recht in die historischen Bewegungsgesetze hineinpaßte. Die Theorie sieht sich aufs Quere, Undurchsichtige, Unerfaßte verwiesen, das als solches zwar vorweg ein Anachronistisches an sich trägt, aber nicht aufgeht im Veralteten, weil es der historischen Dynamik ein Schnippchen schlug."(68)
Für eine kritische Geschichtskonstruktion, deren Augenmerk den Abfallstoffen und blinden Stellen gilt, ist die Logik der Geschichte eine Logik des Zerfalls, denn sie nimmt nicht nur den Siegesmarsch des Geistes wahr, sondern auch die darin stattfindende Unterwerfung des schwachen Singulären: seine Zurichtung, seine Vernichtung.
Eine solche Geschichtskonstruktion sucht nicht in der Vergangenheit den Ursprung und die Quelle einer konstituierten und geltenden Gegenwart, d.h., das aus der Vergangenheit, was sich in der Gegenwart siegreich affirmiert und ihr als Legitimation dient, sondern das, was das ununterbrochen Opfer produzierende Kontinuum von Ungerechtigkeit unterbricht und so die Möglichkeit einer alternativen Gegenwart eröffnet. Die Opfer können weder als anonymer Preis einer angeblich besseren Zukunft legitimiert noch für eine mit dem Rücken zu ihnen gebaute Gegenwart für irrelevant erklärt werden. Nur wenn man die unabgegoltenen Rechte der Opfer der Geschichte anerkennt, kann man der Herrschaftslogik entkommen, die ihren historischen Erfolg als gelungene Universalität verschleiert, um weitere, dem Vergessen geweihte Opfer zu produzieren.
Erkenntnis
"Es ist eben jenes Weitergehen und nicht Verweilenkönnen, jene stillschweigende Zuerkennung des Vorrangs ans Allgemeine gegenüber dem Besonderen, worin nicht nur der Trug des Idealismus besteht, der die Begriffe hypostasiert, sondern auch seine Unmenschlichkeit, die das Besondere, kaum daß sie es ergreift, schon zur Durchgangsstation herabsetzt und schließlich mit Leiden und Tod der bloß in Reflexion vorkommenden Versöhnung zuliebe geschwind sich abfindet - in letzter Instanz die bürgerliche Kälte, die das Unausweichliche allzu gern unterschreibt. (...) Nur dort vermag Erkenntnis zu verweilen, wo sie beim einzelnen so verharrt, daß über der Insistenz seine Isoliertheit zerfällt. Das setzt freilich auch eine Beziehung zum Allgemeinen voraus, aber nicht die der Subsumtion, sondern fast deren Gegenteil. Die dialektische Vermittlung ist nicht der Rekurs aufs Abstraktere, sondern der Auflösungsprozeß des Konkreten in sich."(69)
Das Tempo, das dem identifizierenden Begriff durch die Dringlichkeit des Handlungsbedarfs auferlegt ist, hindert das Denken daran, sich ins Konkrete und Singuläre zu versenken, bei ihm zu verweilen, was Bedingung der Wahrheit wäre.(70) Der wissenschaftlichen Erkenntnis und der naturbeherrschenden Praxis, insofern sie unter dieser Dringlichkeit stehen, liegt die Tendenz zugrunde, das Besondere und Individuelle unter der abstrakten Allgemeinheit des identifizierenden Begriffs zu kaschieren, auch wenn es feststeht, daß das Leben der Sache sich in ihrer begrifflichen Fixierung nicht erschöpft. Die klassifizierende, subsumierende Unterstellung des Objekts unter den Begriff dient dem Zweck seiner Handhabung und Verfügbarmachung durch das erkennende Subjekt. In der Unterschlagung der Nichtidentität von Begriff und Sache und nicht so sehr in der begrifflichen Identifikation selbst, ohne die es keine Erkenntnis geben kann, gehen dem Denken besonderer Inhalt und eigentliche Qualitätsmerkmale der Sache verloren. Das identifizierende Denken verkommt so zum Instrument der Beherrschung der Natur. Was Hegel die "Arbeit des Begriffs" nannte, hat deshalb nicht nur metaphorische Bedeutung. Die materiell-technische und die ideell-begriffliche Beherrschung der Natur sind unzertrennlich miteinander verwoben.(71)
Identität des Geistes und Einheit der Natur sind Korrelate, die sich gegenseitig hervorbringen und die bei beiden mit der Unterdrückung und Abstraktion von einer Fülle von Qualitäten erkauft werden: das Selbst wird zum abstrakten Beherrscher, die Natur zum abstrakten Substrat der Beherrschung.(72) Erstarrung des Objektbereichs und Verkümmerung des Subjekts sind das Resultat davon und zugleich zwei Seiten derselben Medaille. Die Hypostasierung des Subjekts zum absoluten Zweck, die Herrschaft des Subjekts über das Objekt, schlägt in Verdinglichung der Subjekte um, die derselben Herrschaft unterworfen werden, der sie die Objekte unterwerfen. Identität wird so durch Herrschaft hergestellt und zugleich verhindert.
Identität des Geistes und Einheit der Natur wären jedoch ohne die feste Ordnung der Zeit nicht möglich. Das Schema von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft "soll den gegenwärtigen Augenblick von der Macht der Vergangenheit befreien, indem es diese hinter die absolute Grenze des Unwiederbringlichen verweist und als praktikables Wissen dem Jetzt zur Verfügung stellt"(73). Das Zeitbewußtsein dient dann dem entstehenden Subjekt als Instanz zur Entmachtung der Vergangenheit und zur Dienstbarmachung der Gegenwart an die Zukunft. Das Subjekt kann sich nicht konstituieren, nicht sich selbst gegenwärtig werden, nicht zum Bewußtsein kommen, ohne ein Zeitbewußtsein, das die Vergangenheit herabsetzt und die Zukunft privilegiert. Aber nur gegen diese Herabsetzung ist ungeschmälerte Erfahrung möglich.
Verdinglichtes Bewußtsein konstituiert sich durchs Vergessen und bedeutet eine Verarmung der Erfahrung. Sie tritt da ein, wo die Kontinuität bewußter Erinnerung und unwillkürlichen Gedächtnisses gebrochen wird. Die Unterwerfung der Individuen unter die gesellschaftliche, ökonomische und kulturelle Apparatur verengt und verarmt ihre Erfahrungswelt. Die Vermittlung der totalen Gesellschaft setzt den Primat von Produktion und Tausch fest und verlangt die Anpassung des Wahrnehmungs-, Reaktions- und Denkvermögens der ihr Unterworfenen. So wie die eigene Vergangenheit, die sich den Anforderungen der gesellschaftlich vermittelten Produktion hier und jetzt nicht beugt, als Störungsfaktor neutralisiert werden soll, so verdrängt diese Gesellschaft alle Trauer, die sich quer zum reibungslosen Funktionieren des Produktionsmechanismus stellt. "Was nicht heut und hier als gesellschaftlich nützlich auf dem Markt sich ausweist, gilt nicht und wird vergessen."(74) Nichts anderes definiert die Verdinglichung als dieses Vergessen, das die Hypostasierung des Subjekts begleitet.(75) Die Emanzipation von der Herrschaft der Tradition setzt die Tradition der Herrschaft fort, weil jene Emanzipation auf einer Abdichtung des Subjekts gegen seine eigene Genesis beruht. Das Leiden unter dem Zwang jedoch macht diese Abdichtung stets brüchig. Weil die Quelle des Leidens nicht versiegt, muß die Gesellschaft eine Industrie des Vergessens entwickeln, die die falsche Versöhnung von Allgemeinem und Besonderem stützt.(76)
Die Regression des Bewußtseins ist also das Ergebnis des Verdrängungsprozesses, durch den es sich konstituiert. Das Subjekt kann jedoch diesen Prozeß nicht wegmachen, ohne sich selbst aufzugeben. Daran manifestiert sich der aporetische Charakter der Vernunft. Das Subjekt kann aber durch Eingedenken des Verdrängten sich der Herrschaft entgegenstellen, auf der es gründet. "Durch solches Eingedenken der Natur im Subjekt, in dessen Vollzug die verkannte Wahrheit aller Kultur beschlossen liegt, ist Aufklärung der Herrschaft überhaupt entgegengesetzt."(77) Eingedenken ist so ein Akt der Selbstbesinnung des Geistes als mit sich entzweiter Natur. In dieser Selbsterkenntnis ruft "Natur sich selber an (...) als Verstümmeltes"(78). Derart verändert das selbstkritische Eingedenken das Subjekt und eröffnet ihm die Möglichkeit eines neuen Umgangs mit der inneren und äußeren Natur. Erst die Bescheidung, in der der Geist "als Herrschaft sich bekennt und in Natur zurücknimmt"(79), läßt den Herrschaftsanspruch des Subjekts zergehen, auf den die Regression des Bewußtseins zurückgeht.
Philosophie verwandelt sich aus dieser Perspektive in eine Art Sisyphusarbeit: Sie kann nicht anders als mit Begriffen denken und mit ihnen nimmt sie die Unwahrheit und die Schuld der falschen Identität auf sich. Einzig bleibt ihr übrig, sich gegen das Vergessen des Vergessens, das diese falsche Identität bedeutet, zu wehren, die Arbeit der Selbstreflexion auf sich zu nehmen und ihre eigene Unwahrheit zu reflektieren - und womöglich zu berichtigen; zu versuchen, das Begriffslose mit Begriffen aufzutun, ohne es ihnen gleichzumachen(80), d.h. über sie durch die Begriffe hinauszugelangen.(81) Philosophie bewegt die Hoffnung, "in zweiter Reflexion die Suprematie des Denkens über sein Anderes" zu brechen(82), streng immanent das diskursive Denken zu transzendieren. Als "Kritik des konstitutiven Bewußtseins" wendet sie sich gegen die Unterschlagung des Nichtidentischen. Ihr wahres Interesse hat sie im Besonderen, Begrifflosen, Ausgeschlossenen und Vergessenen, dort, wo die philosophische Tradition ihr Desinteresse bekundete.
Durch Versenkung in die Dinge, in ihre historische Dimension, soll Kritik aufdecken, was einst ungelöst blieb, und das Recht des Möglichen gegen das Bestehende dadurch zum Ausdruck bringen.(83) "Inhuman ist das Vergessen, weil das akkumulierte Leiden vergessen wird; denn die geschichtliche Spur an den Dingen, Worten, Farben und Tönen ist immer die vergangenen Leidens."(84) Diese Einforderung der Leidenserinnerung bleibt jedoch von Widerspruch nicht frei, denn einerseits wird der Verlust von Erinnerung in der Gegenwart schonungslos diagnostiziert und andererseits wiederum wird Erinnerung als unverzichtbare Bedingung der Kritik eingefordert. "Darum stellt Tradition heute vor einen unauflöslichen Widerspruch. Keine ist gegenwärtig und zu beschwören; ist aber eine jegliche ausgelöscht, so beginnt der Einmarsch in die Unmenschlichkeit."(85)
Bloße Beschwörung der Tradition hilft nicht und ist auch nicht vom Ideologieverdacht frei. Nur wenn Kritik und Erinnerung konvergieren, kann Tradition durch ihre Zerstörung hindurch bewahrt werden, ohne den Aufstand der modernen Vernunft gegen die Tradition der Herrschaft preiszugeben. "Nicht um Konservierung der Vergangenheit, sondern um die Einlösung der vergangenen Hoffnung ist es zu tun."(86) Tradition hätte dann mit Enthüllung des Gewordenseins des Bestehenden, mit Aufbewahrung der verdrängten und vergessenen Ansprüche der Vergangenheit zu tun und nicht so sehr mit den Ansprüchen und Bedürfnissen der Gegenwart nach Geborgenheit und Sicherheit, nach Absicherung eines erreichten Status durch Rückgriff auf Vergangenes. Als Leidenserinnerung verhält sich Tradition dann kritisch gegen die Autorität des bloß Geschichtsmächtigen.
"Es gibt (...) für Adorno auch eine Tradition des Vergeblichen, Ungewordenen und Beschädigten, welche eine Autorität besitzt, die kategorisch gebietet."(87) Diese Autorität erhält die Leidenserinnerung aus der Autorität des Leidens selbst, das seine eigene Abschaffung gebietet. Wenn das Leiden jede Identitätsphilosophie, alle falsche Versöhnung und alle Rechtfertigung des Bestehenden Lügen straft, muß seine Erinnerung notwendigerweise eine kritische Kraft besitzen, die gegen die Zeitlosigkeit stillstehender Objektivierungen und gegen das sublimierte Subjekt gerichtet werden kann. Tradition als Leidenserinnerung verhält sich dann zur Vernunft nicht bloß extraterritorial, sondern ist ein Medium ihrer Kritik. Die Beziehung zum Vergangenen als "produktives Gedächtnis" soll von daher einerseits seine Abgeschlossenheit, sein Vergangensein revidieren, ohne andererseits Unmittelbarkeit herstellen zu wollen. Solches Gedächtnis kritisiert das herrschende Selbstverständnis und die Maßstäbe der Erinnernden. Weder die Autorität der Tradition wird einfach hingenommen, noch verhält sich das Subjekt wie ein Besitzer, der dem Vergangenen seinen Willen diktiert. Das Vergangene soll in seiner Fremdheit derart zum Erinnernden in Beziehung treten, daß er sich selber fremd wird, die Chance erhält, seinen repressiven Identitätszwang aufzulösen. Deshalb spricht Adorno von "unwillkürlicher Erinnerung."(88)
Vergangenes greift verändernd in die Gegenwart ein nicht durch seine eigene Vollkommenheit, sondern durch seine Unerfülltheit und Bedürftigkeit, die mit der der gegenwärtigen Zeit kommuniziert: unerfüllte Ansprüche des Vergangenen öffnen die Augen für die heutigen und fordern ihre Erfüllung. "Die versöhnte Realität und die wiederhergestellte Wahrheit am Vergangenen dürften miteinander konvergieren."(89)
1. Vgl. auch meinen Beitrag "Erlösung unter Bilderverbot. Zu Th.W: Adornos Idee der Versöhnung nach Auschwitz", in: Jahrbuch Politische Theologie Bd.2: Bilderverbot, hg. v. M.J. Rainer/H.-G- Janßen, Münster 1997, 121-141.
2. Vgl. H. Ott, Heilsgeschichte, in: 3RGG, Bd. III., Sp. 187-189, 187.
3. Vgl. K. Koch, Geschichte/Geschichtsschreibung/Geschichtsphilosophie. II. Altes Testament, in: TRE XII, S. 569-589, 579.
4. Vgl. A. Spreafico, Esodo: Memoria e Promessa. Interpretazioni profetiche. Bologna 1985, 152; E. Zenger, Der Gott des Exodus in der Botschaft der Propheten - am Beispiel des Jesajabuches, in: Concilium (D), 23 (1987) 1, S. 15-22.
5. "Wenn 'Geschichte' eine Richtung auf das verheißene Eschaton hätte, wäre Eschatologie überflüssig; es widerspricht strikt ihrem Sinn, das neue, meist nicht mehr für möglich gehaltene (...) Heilshandeln Gottes unter 'Kontinuität der Geschichte' zu subsumieren, geschweige denn als Konstituens der Geschichtsstruktur zu verrechnen." (W. Jaeschke, Die Suche nach den eschatologischen Wurzeln der Geschichtsphilosophie. Eine historische Kritik der Säkularisierungsthese. München 1976, 128).
6. K. Müller, Apokalyptik/Apokalypsen III. Die jüdische Apokalyptik. Anfänge und Merkmale, in: TRE III, 202-251, 233.
7. J. Ebach, Apokalypse. Zum Ursprung einer Stimmung, in: Einwürfe 2 (1985), 15.
8. K. Füssel, Im Zeichen des Monstrums. Zur Staatskritik der Johannes-Apokalypse. Freiburg (Schweiz) 1986, 66.
9. Vgl. G. Lanczkowski, Geschichte/Geschichtsschreibung/Geschichtsphilosophie. I. Religionsgeschichtlich, in: TRE XII, S. 565-569, 567; W. Burkert, Apokalyptik im frühen Griechentum: Impulse und Transformationen, in: D. Hellholm (Hg.), Apocalypticism in the Mediterranean World and the Near East. Tübingen 1989, 244 ff.
10. Vgl. Ch. Münchow, Ethik und Eschatologie. Ein Beitrag zum Verständnis der frühjüdischen Apokalyptik mit einem Ausblick auf das Neue Testament. Göttingen 1981.
11. Th.W. Adorno, Gesammelte Schriften. Hrsg. v. R. Tiedemann u.a. Frankfurt a.M. 1970ff. (hinfort zit. GS), Bd. 1, 325.
12. Vgl. Th.W. Adorno, GS 10, 469ff.
13. Vgl. Th.W. Adorno, GS 6, 62.
14. Vgl. E. Thaidigsmann, Von der Gerechtigkeit der Wahrheit. Der ontologische Gottesbeweis bei T. W. Adorno mit einem Blick auf die Theologie Karl Barths, in: NZSTh 37 (1995), S. 144-164, 145f.
15. Th.W. Adorno, GS 4, 108; vgl. J. Früchtl, Radikalität und Konsequenz in der Wahrheitstheorie. Nietzsche als Herausforderung für Adorno und Habermas, in: Nietzsche-Studien 19 (1990), S. 431-461, 445f.
16. Th.W. Adorno, GS 10, 465.
17. Th.W. Adorno, GS 5, 141.
18. W. Benjamin, Gesammelte Schriften. Hrsg. v. R. Tiedemann u. H. Schweppenhäuser. Frankfurt a.M. 1972ff. (hinfort zit. GS), Bd. V, 578.
19. Vgl. E. Thaidigsmann, A.a.O., 152.
20. Vgl. Th.W. Adorno, GS 6, 165.
21. Vgl. Th.W. Adorno, GS 4, 281.
22. Vgl. Th.W. Adorno, GS 10, 461.
23. W. Benjamin, GS I, 214.
24. A.a.O., 223.
25. A.a.O., 222.
26. A.a.O., 213.
27. A.a.O., 946.
28. A.a.O., 228.
29. A.a.O., 214.
30. A.a.O., 216.
31. Ebd.
32. A.a.O., 209.
33. A.a.O., 208.
34. Vgl. a.a.O., 214.
35. Vgl. Th.W. Adorno, GS 10, 239; 251.
36. Vgl. J. Hörisch, Objektive Interpretation des schönen Scheins. Zu Walter Benjamins Literaturtheorie, in: N. Bloz u. R. Faber (Hgg.), Walter Benjamin. Profane Erleuchtung und Rettende Kritik. Würzburg 1982, 45.
37. W. Benjamin, GS I, 227.
38. A.a.O., 226.
39. W. Benjamin, GS VI, 50 f.
40. R. Tiedemann, Studien zur Philosophie Walter Benjamins. Frankfurt a.M. 1973, 78.
41. W. Benjamin, GS VI, 46.
42. W. Benjamin, GS I, 935.
43. Th.W. Adorno, GS 6, 353
44. Th.W. Adorno, GS 1, 360.
45. A.a.O., 359.
46. A.a.O., 362.
47. Th.W. Adorno, GS 17, 84.
48. W. Benjamin, GS I, 636.
49. A.a.O., 434. Benjamins Interpretation der Allegorie hängt mit der Krise des Fortschrittsoptimismus zusammen, die sich Mitte des 19. Jahrhunderts anbahnt und im Zusammenbruch der Kultur im I. Weltkrieg zuspitzt. Das Theodizee-Problem gewinnt erneut Virulenz. Vgl. dazu H.D. Kittsteiner, 160ff.
50. Th.W. Adorno, GS 1, 359.
51. Vgl. Th.W. Adorno, GS 8, 376.
52. A.a.O., 375.
53. W. Benjamin, GS I, 683; GS V, 592.
54. Th.W. Adorno, GS 8, 375.
55. Th.W. Adorno, GS 4, 55.
56. Th.W. Adorno, GS 6, 29.
57. W. Benjamin, GS I, 697.
58. Ebd.
59. Vgl. W. Benjamin, GS I, 1237.
60. Th.W. Adorno, GS 11, 296f.
61. Th.W. Adorno, GS 10, 284.
62. A.a.O., 269.
63. Th.W. Adorno, GS 3, 139.
64. Vgl. Th.W. Adorno, GS 10, 567.
65. Th.W. Adorno, GS 4, 55.
66. A.a.O., 266.
67. Th.W. Adorno, GS 3, 265.
68. Th.W. Adorno, GS 4, 170.
69. A.a.O., 81.
70. Vgl. A.a.O., 84f.
71. Vgl. Th.W. Adorno, GS 5, 268.
72. Vgl. Th.W. Adorno, GS 3, 25.
73. A.a.O., 50.
74. Th.W. Adorno, GS 10, 311.
75. Vgl. Th.W. Adorno, GS 6, 64; GS 3, 263.
76. Vgl. Th.W. Adorno, GS 3, 151.
77. A.a.O., 58.
78. A.a.O., 57.
79. Ebd.
80. Vgl. Th.W. Adorno, GS 6, 21.
81. Vgl. A.a.O., 27.
82. A.a.O., 201.
83. Vgl. Th.W. Adorno, GS 7, 37; 204.
84. Th.W. Adorno, GS 10, 315.
85. A.a.O., 315.
86. Th.W. Adorno, GS 10, 15.
87. R. Buchholz, Zwischen Mythos und Bilderverbot. Die Philosophie Adornos als Anstoß zu einer kritischen Fundamentaltheologie im Kontext der späten Moderne. Frankfurt a.M. /u.a. 1991, 184.
88. Th.W. Adorno, GS 14, 132.
89. Th.W. Adorno, GS 7, 67.